Systemrelevant …. was für ein denkwürdiger Begriff. Vor Corona hätten die meisten Menschen, damit die Schlüsselindustrien, die Bundeswehr, den Staatsschutz, vielleicht die Banken und bestenfalls noch die Sicherheitsexperten in Atomkraftwerken in Verbindung gebracht. Corona hat den Blickwinkel verändert. Wir merken: Systemrelevant, sind die Berufsgruppen und Branchen, die die Grundversorgung sicherstellen und damit unser Land am Laufen halten. Das muss sich ins Gehirn der Menschen einbrennen – für die Zeit nach Corona.
Am 1. Mai waren meine Timelines bei Facebook und Twitter voll von Fotos und Posts von Gewerkschafter*innen und linken Politiker*innen, die sich für die Rechte von Arbeitnehmer*innen und eine bessere Bezahlung stark machten. Immer wieder dabei: die Forderung nach einem einheitlichen Mindestlohn von mindestens € 12.- pro Stunde. Eine – wie ich finde – berechtigte Forderung…. und ich freue mich sehr, dass in Berlin der gesetzliche Mindestlohn bereits auf € 12,50 festgelegt wurde. Ich verstehe eigentlich auch gar nicht, wie man dagegen sein kann. Es ist doch plausibel und grundsätzlich richtig, wenn Menschen, die den ganzen Tag arbeiten gehen, davon auch leben können. Und wer sein Leben lang arbeitet, der darf am Ende seines Lebens nicht in die Altersarmut fallen. Wenn wir alte Menschen losschicken, Pfandflaschen zu sammeln, damit sie sich was zu essen leisten können, dann stimmt was grundsätzliches nicht in unserem Land. Dann stimmt irgendwas grundsätzliches mit uns nicht. Ein Mindestlohn ist ein wichtiger Baustein zu sozialer Gerechtigkeit und gegen Altersarmut. Und darüber hinaus ein Zeichen von Wertschätzung für geleistete Arbeit.
Eine von mir wegen ihres herausragenden Engagements in ihrem Wahlkreis sehr geschätzte Politikerin hat die Forderung nach einem Mindestlohn vor ein paar Tagen deutlich abgelehnt mit dem Hinweis auf sich verändernde Arbeitswelten, die durch Corona noch mal einen deutlichen Schub bekommen. Ihre These: HomeOffice und Digitalisierung verändern die Wirtschaft und die Arbeit gerade enorm und sie kritisiert, dass die SPD dies offenbar nicht angemessen zur Kenntnis nimmt und stattdessen nur „stereotyp“ nach einem Mindestlohn ruft. Ich habe ihr auf Facebook entgegnet: die, die vom Mindestlohn profitieren, sind i.d.R. nicht die, die über HomeOffice oder Schreibtischsharing oder Digitalisierung nachdenken. Das sind i.d.R. eher systemrelevante Arbeitnehmende in schlecht bezahlten Berufen: Reinigungskräfte, Verkäufer*innen, Pflegekräfte u.v.m. ….. da reicht klatschen auf dem Balkon häufig nicht – da müssen steigende Mieten und Lebenshaltungskosten durch steigende Einkommen kompensiert werden…
Armutsrisiko „Systemrelevanz“
Es ist schon ein interessanter Widerspruch, dass wir diejenigen, die wir jetzt in der Krise als die wirklich systemrelevanten Arbeitnehmer*innen begreifen lernen, am schlechtesten bezahlen. Und ich denke hier vor allem auch an meine vielen Kolleginnen und Kollegen in sozialen, pädagogischen Berufen oder in der Pflege: Noch immer verdienen Leute, denen wir unser Geld anvertrauen deutlich besser als Menschen, denen wir unsere Kinder oder unsere pflegebedürftigen Eltern anvertrauen. Menschen, aus helfenden, versorgenden und infrastruktursichernden – also sozialen – Berufen werden miserabel bezahlt, sind häufig armutsgefährdet und stehen materiell eher am Rand der Gesellschaft. Das muss sich nachhaltig ändern.
Sehr gefreut habe ich mich in dieser Woche deshalb über eine Initiative, die gerade anfängt im Netz Lobbyarbeit für unsere Branche zu machen: „dauerhaft systemrelevant“. Der noch junge und sehr sehr kleine Twitteraccount und die etwas größer Facebook-Seite versprechen: „Tausende Sozialarbeiter:innen wirken in verschiedenen Arbeitsfeldern mit und für die Menschen – und bleiben dabei aktuell unsichtbar. Heute demonstrieren wir online und machen digital auf uns aufmerksam.“
Soziale Arbeit ist unverzichtbar
Ich würde es großartig finden, wenn wir alle, diese Accounts und ihre Macher*innen richtig groß machen würden. Macht Werbung, teilt deren Beiträge in allen sozialen Netzwerken – vor allem auch außerhalb der eigenen Filterblase. Wir sind systemrelevant. Das waren wir vor Corona, sind es während der Krise und wir werden es nach der Krise sein. Und Systemrelvanz muss sich in angemessener Bezahlung und Wertschätzung für diese Berufe ausdrücken, denn: unsere Leistung für diese Gesellschaft ist unverzichtbar.