Was stimmt mit mir (nicht)?

Ich habe seit ein paar Monaten nichts mehr auf meinem Blog veröffentlicht. Und auch heute tue ich mich schwer in Worte zu fassen, was ich loswerden will. Ich beobachte mich und stelle fest, dass ich mich selbst und die Welt um mich herum sich in den letzten Jahren heftig verändert hat. Diese Veränderungen lösen in mir unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche Gefühle aus. Und was ich daraus machen werde, weiss ich noch nicht. Vielleicht auch ganz gut so.

In meinem Lieblingspodcast „Hotel Matze“ haben sich Matze Hielscher und Philip Siefer Ende März über die „Hierachie der Gefühle“ unterhalten. (Den Podcast findet Ihr auf allen gängigen Podcast-Plattformen). Zwei Sätze, die mir hängengeblieben sind: „Es gibt keine richtigen und keine falschen Gefühle“ und „Selbstführung ist Selbstfühlung“. Das klingt erstmal nicht revolutionär, hat aber in mir ein paar Gedanken ausgelöst. Ich selbst neige dazu, meine Gefühle zu bestimmten Dingen sofort nach dem ich merke, dass ich sie fühle, zu bewerten und in eine Schublade zu packen. Ich ärgere mich über jemanden oder über eine bestimmte Sache, und zack – kommt der Bewertungshammer: „Das ist nicht in Ordnung, dass du jetzt Ärger fühlst, der / die andere hatte sicher gute Gründe, sich so zu verhalten…. Die Sache ist ja auch nicht soooo schlimm, was stimmt mit dir nicht, dass du dich darüber so ärgerst? Denk mal positiv und reiss dich zusammen….“ (Das ist nur ein kleiner Auszug 😉 ) .

In mir ist die Tendenz angelegt, Gefühle als richtig oder falsch einzuordnen und zu bewerten. Ärger, Traurigkeit, Neid, Enttäuschung – das sind „schlechte“ Gefühle. Freude, Fröhlichkeit, Liebe, enthusiastische Hochgefühle sind „gute“ Gefühle“. Ich habe gelernt und akzeptiert, dass „gute“ Gefühle OK sind – „schlechte“ behält man besser für sich. Wenn ich „schlechte“ Gefühle habe, stimmt was mit mir nicht, dann bin ich nicht in Ordnung. Eine Möglichkeit damit anders umzugehen – so Philip Siefer in dem oben erwähnten Podcast: Nimm die Gefühle erstmal „nur“ wahr, akzeptiere, dass sie da sind. Bewerte sie nicht. Guck sie dir an, wo genau in die fühlst du diese Gefühle, was lösen sie bei dir aus?

Bei mir hat das viel mit Selbstbild zu tun. Wie möchte ich mich selber sehen, wie möchte ich von anderen gesehen werden? Woher kommt dieses Selbst-/Idealbild? Wer oder was bin ich, wenn ich diesem Selbstbild „gerecht“ werde, wer oder was wenn nicht? Und was macht es mit mir, wenn ich fühle, dass sich um mich herum so viele Dinge ändern, dass ich mich selbst so verändere, dass ich mit dem alten Selbstbild, der „Konzeption“ meiner eigenen Persönlichkeit, mit dieser Welt um mich herum immer weniger gut klarkomme.

Gestern Nachmittag habe ich das deutlich gespürt an einer Stelle, wo ich es nicht erwartet hätte. Ich war im Olympiastadion zum Derby zwischen Hertha und Union. Ich habe mich im Vorfeld riesig auf dieses Spiel gefreut. Volles Haus, tolle Stimmung, Mampel mittendrin. So was fand ich immer großartig. Gestern war es anders. Das erste Mal seit Jahren war das Stadion ausverkauft, rund 75.000 Menschen. Dass es mir dieses Mal schwerer gelingen würde, mich entspannt auf diese Situation einzulassen merkte ich schon ziemlich früh. Es war schon am Einlass und dann überall im Stadion und ganz besonders in meinem Block um mich herum richtig voll und eng. Nach zwei Jahren Corona mit fremden Menschen eng auf einem Fleck, viele mit reichlich zu viel Alkohol im Kopp, was ich nach über vier Jahren Alkoholabstinenz nochmal als besonders unangenehm empfand. Dumme Sprüche, blöde Kommentare. Alles wie immer – aber gestern hats mich genervt. Die inhaltsleeren Rituale der „Ultras“ in der Ostkurve – auf die wir lange verzichten durften, weil sie seit Inkrafttreten der Coronaregelungen Stadionbesuche für sich ausgeschlossen hatten – und vor allem die übergriffige und respektlose Aktion nach Spielende gegenüber unseren Spielern fand ich abstoßend. Die Abreise aus dem Stadion war ein weiterer „Höhepunkt“. Überfüllte – zwischenzeitlich von der Polizei abgeriegelte – Bahnsteige, Aggressivität, kleinere Prügeleien am Rande….. Hundertschaften der Polizei in voller Kampfmontur, die versuchen „verfeindete“ Fangruppen zu trennen – ein paar Hundert Kilometer weiter ist Krieg. Die beiden sehr unterschiedlichen Bilder sorgen für emotionales Feuerwerk in meinem Kopf.

Vor einiger Zeit hätte ich noch gelächelt und gesagt, dass das alles dazugehört, wenn die Stadtrivalen aufeinander treffen. Jetzt find ichs nur noch gruselig, abstoßend, nervend.

Richtig bewusst geworden ist mir das erst heute morgen. Und mein erster Reflex war wieder: Was ist los mit Dir Mampel? Du liebst Fußball, du liebst Stadionatmosphäre, du hast sogar eine Dauerkarte. Was stimmt mit Dir nicht? zack….. Meine eigenen Gefühle zur gestrigen Erfahrung be- und abgewertet. Wenn diese „schlechten“ Gefühle da sind, dann liegt es daran, dass ich irgendwas nicht richtig sehe und beurteile…..

Ähnlich geht es mir manchmal, wenn ich mir angucke, was im beruflichen Kontext um mich herum passiert, sich entwickelt und verändert und wie ich damit umgehe. Menschen, Verhalten, Rituale, die „schlechte“ Gefühle bei mir auslösen. Ich ärgere mich über Dinge und Menschen – was an den Menschen und den Dingen nichts ändert, aber mir Energie absaugt. Ich ersticke in Arbeit und versuche, diesem Arbeitsdruck mit noch besserer Planung zu begegnen. Hier im Blog gibts sogar eine eigene Rubrik „Produktivität“. Seit Jahren versuche ich herauszufinden, mit welchen Methoden, Tricks und Werkzeugen es am besten gelingt, den alltäglichen Wahnsinn organisier-und beherrschbar zu machen und mit Blick auf „Fokus“ und die „wirklich wirklich wichtigen Dinge“ in allem, was man tut, so erfolgreich wie gerade möglich zu sein. Ein Teil von mir mag das. Ein anderer Teil wehrt sich. Im September letzten Jahres bin ich einmal im Büro umgekippt. Ich habe das als „Warnhinweis“ gedeutet – aber nicht wirklich was verändert. Ich gehe ständig über meine Grenzen, denn das habe ich immer so gemacht. Früher – also bis Anfang 2018 – habe ich die daraus resultierenden Gefühle von Erschöpfung, Angst, Unsicherheit mit Alkohol betäubt. Damit habe ich aufgehört. Das ist gut für mich – aber ich habe in der ganzen Zeit seither noch nicht wirklich einen Plan, wie ich stattdessen mit den genannten Gefühlen bei mir umgehen soll. Zu Beginn der Pandemie, irgendwann im Frühsommer 2020 habe ich wieder angefangen zu rauchen – nachdem ich zuvor 16 Jahre rauchfrei war. Suchttherapeutisch ausgedrückt ein „Verhaltensrückfall“ – nur mit einer anderen Droge. Und nun beschäftige ich mich seit Monaten mit der Frage, wie ich wieder mit dem Rauchen aufhören kann – und bin unsicher, weil ich noch keinen guten Plan habe, wie ich die Funktion des Rauchens, die offensichtlich ein wichtiges emotionales Bedürfnis von mir befriedigt, durch was besseres ersetze.

Selbstführung ist Selbstfühlung. Ich kann mich nur selbst führen, wenn ich mich selbst fühle. Aus dem Gefühl heraus erkenne ich den Weg, die notwendigen Schritte, die zu gehen sind. Klingt plausibel. Aber geht das wirklich so einfach? Wie gehe ich im beruflichen Kontext mit dem Gefühl von Ärger über Menschen und deren Verhalten um? Ist es wirklich gut, meinen Menschen um mich herum, immer offen und ehrlich zu sagen, was ich grad fühle? Ist das mit meiner Rolle als „Chef“ kompatibel? Funktioniert Zusammenarbeit im Team besser oder weniger gut, wenn sich die Menschen gegenseitig ihre („schlechten“) Gefühle „zumuten“. Oder gibt es einen Weg dazwischen? Was passiert, wenn ich meinem aus Arbeitsdruck und Überlastung resultierenden Gefühl der Erschöpfung, Müdigkeit, Unsicherheit und Ängstlichkeit freien Lauf lassen würde? Was wäre, wenn ich ganz damit aufhören würde, meine Arbeitstage durchzuplanen und zu organisieren? Was wäre, wenn ich so arbeiten würde, wie ich (mich) fühle? Darf ich das?

Vor allem muss ich wohl mein „Selbstkonzept“ mal in Frage stellen, meine Glaubenssätze und Mantras. Ich bin (anders als ich mir das für mein „Idealselbst“ wünsche) ziemlich festgelegt, was den Blick auf bestimmte Dinge angeht. Das ist in den letzten 5 Jahren schon viel besser geworden – aber der größte Teil der Strecke liegt noch vor mir. Fühlt sich anstrengend an. Aber richtig.

9 Gedanken zu “Was stimmt mit mir (nicht)?

  1. Hi, ich mag deinen Ansatz “Selbstführung ist Selbstfühlung”. In dem Wissen, dass über meine Gedanken meine Gefühle gesteuert werden, fällt es mir leichter, vom Gefühl zum Gedanken zu kommen, wenn ich es (zunächst) bewusst nicht merke. Und das Gefühl, das negative Gefühl, wird wieder gehen. Daher darf es auch da sein, weil es mir ganz sicher etwas über mich zeigt. Anteile, die mir nicht gefallen. Anteile, die sich nicht verdrängen lassen. Ich bin ich, auch mal an schlechten Tagen. Und auch die gehen bekanntlich vorbei. Am Ende hab ich’s sogar in der Hand. Ja, die Welt verändert sich. Das war schon immer so. Und das heißt auch, dass auch wir uns verändern dürfen. Das Wie bestimmen wir. So oder so lernen wir dazu. Mit dir ist alles in Ordnung. Du lernst “nur” dazu. Indem du als Beobachter in deine Welt eintauchst. Und die Welt von morgen muss nicht eine Welt sein, die dir gefällt. Du kannst dir jedoch das rauspicken, was dir gefällt, dir eben gute Gefühle beschert. Du kennst sie alle. 🙃

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  2. Hi Thomas,
    ich bin ja nicht so oft Gast bei Dir – unsere Blogs haben halt sehr unterschiedliche Themen. Ab und zu lasse ich aber auf meinem eher technisch orientiertem Blog auch unter der Rubrik „Sonntagsgedanken“ meine Gedanken raus.
    Ich denke, das ist auch wichtig – hinter jedem Blogger steckt eben auch ein Mensch und keine Maschine, die nur abliefert.
    Das was Du beschreibst, ist ein Verhalten (oder nenne es Veränderung), die ich bei mir auch bemerkt habe. 2 Jahre Corona hat bei vielen von uns eine andere Sicht auf die Menschen bewirkt – leider nicht zum positiven.
    Ich glaube, dass Du da ähnlich gestrickt bist wie ich – grade weil Du im sozialen Bereich tätig bist und dir die Menschen und deren Probleme am Herzen liegen.
    Wenn man sich selber immer an alle Vorgaben hält, versucht, das Ansteckungsrisiko für andere (viele haben es ja nach 2 Jahren immer noch nicht kapiert, dass die ganzen Schutzmaßnahmen nicht dazu dienen, dass sich die Schwurbler nicht anstecken, sondern eben genau die anderen: die Schutzbedürtigen, zu Risikogruppen gehörende Menschen, die nicht das Glück haben einen vergleichsweise milden Verlauf bei einer Ansteckung zu haben) zu minimieren – aber dann sieht, mit welcher Gleichgültigkeit sich andere Menschen darüber hinwegsetzen, weil sie aus purem Egoismus der Meinung sind, dass die Regeln nur für andere gelten – dann wird man dünnhäutig..
    Und diese Dünnhäutigkeit bleibt nicht bei Corona, sie breitet sich im Hirn weiter auf andere Bereiche im alltäglichen Bereich aus: Mitbewohner, die ständig zu faul sind Papp-Kartons zu zerreisen, sondern die im ganzen in den Papier-Container stopfen, so dass der sofort nach der Leerung fast voll ist, obwohl man mit etwas Rücksicht auf andere Mietparteien den Platz auf 1/10 hätte reduzieren können, das parken mitten auf 2 Parkplätzen, damit bloß keine Macken in den Drecks-SUV mit Überbreite kommen, falls mal die Tür eines anderen Autos zu weit aufgemacht wird, das abkippen von Restmüll direkt hier im Naturschutzgebiet, weil man zu faul und zu geizig ist, den Mist ins Auto zu laden und auf der Müllkippe mal 20 € zu zahlen.
    Alles das nervt – weil man selber so etwas nicht tut – und auch nie tuen würde.
    Und bei dem Thema Fussball – ich wohne in Dortmund und in Spuckweite zum Stadion. Nach meinen Erlebnissen im ÖPNV mit alkoholisierten „Fans“ und dem unakzeptablem Parkverhalten hier in meiner Siedlung muss ich leider sagen, dass ich von den BvB-Anhängern nicht allzuviel halte.
    Von daher ist bei Dir alles in Ordnung – oder bei uns Beiden ist eine Sitzung beim Meisendoktor fällig..
    Bleib Gesund
    CU
    P.

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  3. In meinen Augen gibt es keine falschen (schlechten) Gefühle. Alles was ich fühle hat einen Grund. Von jemandem gesagt zu bekommen: „Dein Gefühl hat dich getäuscht, ich habs ganz anders gemeint.“ ist so nutzlos, wie ein Kropf. Meine Gefühle sind meine Wahrnehmung – aus meinem momentanen Zustand heraus. Und zu diesem Zustand gehören die schlechten Gefühle ganz genauso, wie die Guten. Nur beide zusammen, machen mich aus.

    Die schlechten Gefühle haben einen Grund. Versuche ich sie zu verdrängen oder sie abzuwerten, werte ich mich gleichzeitig selbst ab. Weil ich mir etwas nicht erlaube oder schlecht rede, was Teil von mir ist. Und nur mit den schlechten Gefühlen, kann ich den Blick auf die guten Gefühle entwickeln. Dazu muss ich natürlich die Selbstwahrnehmung stärken und mir beide Seiten sehr bewusst machen. Wenn ich weiß, was mir guttut, kann ich wissen, was mir nichts nutzt. Und je klarer ich kommuniziere, warum sich etwas nicht gut für mich anfühlt, kann ich zu einer Lösung für mich und andere kommen. Mir ist es immer lieber, zu wissen, wie mein Gegenüber denkt (fühlt), denn dann kann ich aktiv dazu etwas tun oder erklären.

    Dennoch muss man (ich) aber auch bedenken, dass Dinge, die mir früher gefallen haben, heute Ängste und Unwillen auslösen können. Die Risikobereitschaft sinkt, das Sicherheitsbedürfnis steigt, die Harmoniebedürftigkeit wird höher, der Wille zu Kompromissen sinkt, meine Toleranzbereitschaft wird zunehmend auf die Probe gestellt … bei mir. Was ist davon jetzt gut oder schlecht? Es gehört zusammen. Nicht nur die Welt ändert sich. Wir uns mit ihr auch. Und bei allem, sich selbst hinterfragen, muss manchmal auch die klare Feststellung stehen: Nein, es ist völlig ok, so zu fühlen. Finde ich.

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  4. Lieber Christian,
    danke für deinen Kommentar 🙂

    Ich bin grad gestern über ein Buch gestolpert, dass ich mir auch gleich gekauft habe: „Der kleine Alltagsstoiker“ von Jörg Bernady …Ich bin gespannt – mit der Stoa habe ich mich überhaupt noch nicht befasst.

    Dass sich Grenzen, Prioritäten und überhaupt alle Dinge im Leben grad schnell und zum Teil grundlegend verändern finde ich an sich gar nicht schlimm oder bedrohlich. Ich komm nur manchmal einfach nicht hinterher bei der Geschwindigkeit und Dynamik der Veränderungsprozesse…… Aus dem Hamsterrad heraus blickend frage ich mich, wann ich das alles mal sortieren und neu ordnen soll? Und wenn ich bei der Frage angekommen bin, komme ich ganz schnell zu ein paar ganz grundsätzlichen Fragen, die ich mal mit mir besprechen muss 😉

    Liebe Grüße und vielen Dank für deine Wünsche!
    Thomas

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  5. Lieber Thomas,
    ich bin mir sicher, du brauchst keine Ratschläge, daher nur zwei kurze Impulse:

    1. Gefühle sind erstmal nur da. Die Frage ist: Wie reagiere ich auf sie? Für mich ist die stoische Philosophie in Kombination mit Meditation und schreiben extrem hilfreich.

    2. Vielleicht geht es gar nicht darum, ob mit dir „etwas nicht stimmt“. Vielleicht hat das Ausreizen der Grenzen einfach seinen Preis und deine Prioritäten und die Dinge, die dir guttun, verändern sich? Leben läuft, das kling von einem Jungspund wie mir sicherlich seltsam, in Phasen ab und alles hat seine Zeit. Wäre es so schlimm, wenn bestimmte Dinge ihre Zeit für dich hinter sich haben?

    Alles Gute und viel Kraft dir.

    Beste Grüße,
    Christian

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